Antirassistische Strategien für die Linksjugend

Im Verband haben wir uns 2022 darauf geeinigt, Hürden gegenüber migrantisierten Mitgliedern vor politischer Aktivität abzubauen. In demselben Jahr haben wir einen Beschluss zu unserer Rassismuskritik gefasst: https://www.linksjugend-solid.de/beschluss/fuer-einen-materialistischen-antirassismus/
Wir sind als sozialistischer Verband nicht überzeugt, dass Rassismus bloß bösen Gedanken von individuellen Menschen entspringt. Rassismus ist ein gesellschaftliches Verhältnis von Menschen, dass auf der Hierarchisierung von Rassifizierten und Nicht-Rassifizierten beruht. Entstanden im Zuge von Kolonialismus und dem Aufkommen des Kapitalismus entstand auch modernen Rassismus und die Überausbeutung von Rassifizierten. Das beinhaltet zwar Alltagsrassismus, geht aber darüber hinaus. Anders wäre es schwer, zu rechtfertigen, dass trotz technischem Fortschritt in den ehemaligen Kolonien schwere körperliche Arbeit für niedrigen oder keinen Lohn geleistet wurde – bis zur Sklaverei.
Auch heute werden Rassifizierte noch über-ausgebeutet. Das heißt, dass ihr Lohn so niedrig ist, dass er nicht genügt, um die eigene Arbeitskraft wiederherzustellen und sich erholen zu können. Die Lage für migrantisierte Frauen ist umso prekärer, da sie in der Regel zusätzlich zuhause unbezahlte Sorgearbeit leisten. Die dominante Form von Rassismus hat sich allerdings verändert: Heutzutage ist neben einem Rassismus, der Überausbeutung mit scheinbaren biologischen Unterschieden rechtfertigt, ein Kulturrassismus vorherrschend. Dieser trifft nicht nur Schwarze, sondern generell als „ausländisch“ Markierte.
Durch diese Verzahnung von Rassismus mit Ausbeutung im Kapitalismus und Patriarchat muss es ein Anliegen eines sozialistischen und feministischen Verbands sein, unter Rassifizierten gut verankert zu sein. Aktuell ist allerdings unsere Mitgliedschaft im Vergleich zur Gesamtbevölkerung unterdurchschnittlich migrantisch.
Als linker Verband ist der Arbeitskampf mit Gewerkschaften einer unserer wichtigsten Aufgaben. Der Kapitalist profitiert von dem Konkurrenzkampf zwischen migrantischen und nicht-migrantischen Arbeiter:innen. Dieses Konkurrenzdenken zwischen den Arbeiter:innen fördert Rassismus und Diskriminierung. Hand in Hand müssen wir gemeinsam mit migrantischen und nicht-migrantischen Arbeiter:innen für gerechte Löhne und gute Arbeitsbedingungen für alle kämpfen. Der Fokus muss auf die Bekämpfung des wahren Problems gerichtet sein – des Kapitalismus.
Als erste Idee, mehr migrantisierte Personen zu gewinnen, wird oft Bildung zu Antirassismus genannt. Während es stimmt, dass antirassistische Bildung breiter im Verband stattfinden sollte, haben Rassifizierte in der Verbandsumfrage (deckungsgleich mit nicht-Rassifizierten) als persönlich wichtigstes Anliegen soziale Gerechtigkeit genannt. Soziale Gerechtigkeit ist ein Kernthema der Linksjugend [‘solid] als sozialistischer Jugendverband und trotzdem sind wir zu konkreten Anliegen leider noch nicht ausreichend sprechfähig.
Gerade machen sich viele Aktive im Verband darüber Gedanken, wie die Linksjugend ein Ort der politischen Organisierung sein kann, in der sich migrantisierte Menschen gerne organisieren und aktiv einbringen. Denn let’s be honest: Niemandem hilft es, wenn der gesamte Verband den ganzen Tag meckert, wir seien zu weiß und akademisch – das ist keine sinnvolle politische Praxis!
Stattdessen ist es wichtig, dass wir verstehen, was die gesellschaftlichen Voraussetzungen sind, die dazu führen, dass migrantisierte Menschen strukturell ausgeschlossen werden. Hierfür haben wir eine Verbandsevaluation gestartet, an der 180 Mitglieder teilgenommen haben. Wir würden euch gerne kurz die zentralen Ergebnisse hiervon präsentieren, denn die Erkenntnisse davon waren grundlegend wichtig für unsere Überlegungen!

Ziele:

Solidarisch Verantwortung tragen
Schon jetzt findet vereinzelt Bildung zu Rassismuskritik statt. Es wird im Verband allerdings als zu selbstverständlich betrachtet, dass Menschen mit Migrationshintergrund Bildungsarbeit über Antirassismus übernehmen. Deshalb lastet die Arbeit oft allein auf den Schultern von ihnen und sie haben weniger Zeit und Kraft für Anderes. Viele Nicht-Rassifizierte entziehen sich mit dem Verweis auf Betroffenheit von ihrer Verantwortung, sich ernsthaft mit Antirassismus zu beschäftigen. Deswegen erwarten wir, dass insbesondere Menschen ohne Migrationshintergrund mehr Verantwortung übernehmen, um über Antirassismus innerhalb und außerhalb des Verbandes aufzuklären. Auch Vorstände sollen Antirassismus als Teil ihrer Arbeit begreifen. Deshalb wollen wir dazu Wissen zwischen den verschiedenen Ebenen austauschen.

Bildung und Förderung sind nicht dasselbe
Die Linksjugend ist ein antirassistischer Verband. Antirassistische Bildung muss sich an alle richten. Um Hürden in unserem Verband abzubauen, ist Förderung für migrantisierte Mitglieder wichtig. Häufig wird davon ausgegangen, dass Migrant:innen ihren Fokus auf Antirassismus legen und sich bei Migraförderung darauf beschränkt. Deswegen werden Migrant:innen für andere Themen, die ihnen wichtig sind, nicht angesprochen. Wir wollen darauf achten, dass Migrant:innen auch bei anderen Themen gezielt angeworben werden. Die Verbandsumfrage hat gezeigt, dass migrantisierte Mitglieder mit vielen verschiedenen Themen der Linksjugend beitreten und sich mit ihnen beschäftigen wollen. Migrantische Mitglieder suchen oft nach Vernetzung, aber nicht allein zu Antirassismus. Deshalb wollen wir flächendeckend Bildung zu Antirassismus betreiben und parallel Förderangebote für migrantisierte Mitglieder ausbauen.

Sprechfähig zu Sozialer Gerechtigkeit werden & Ansprache auf Augenhöhe
Der Verband muss den Fokus auf soziale Gerechtigkeit setzen. Migrant:innen sind häufiger benachteiligt, aber auch nicht-Migrant:innen leiden unter den unfairen Bedingungen in unserer Gesellschaft. Damit wollen wir Migrant:innen besonders gut erreichen. Wir wollen offen auf Interessierte zugehen, ohne zu viele Abkürzungen und sensible Sprache etc. vorauszusetzen. Das heißt nicht, unsere Grundsätze über Bord zu werfen, sondern Neumitglieder gezielt unterstützen, statt sie wegen „falscher Sprache“ auszuschließen.

Migrantische Vernetzung
Eine Vernetzungsgruppe für Migranten schafft einen sicheren Raum, in dem sich Migrant:innen über ihre Erfahrungen austauschen und Kontakt aufbauen können. Ziel ist, sich gegenseitig in politischer Arbeit zu stärken. Die Vernetzungsgruppe kann für manche Migrant:innen der erste Berührungspunkt darstellen. Deswegen soll die Linksjugend eine Vernetzungsgruppe für alle Genoss:innen mit Migrationshintergrund aufbauen.

Aktiv werden in (migrantischen) Arbeitskämpfen
Es ist wichtig, dass wir uns aktiver an Arbeitskämpfen beteiligen und migrantische Arbeiter:innen so unterstützen wie nicht-migrantische Arbeiter:innen. Dafür muss die Linksjugend präsenter in Gewerkschaften werden und ein fester Bestandteil von Arbeitskämpfen deutschlandweit sein.
Diese Arbeitskämpfe sollen divers und inklusiv gestaltet werden. Damit wir alle gemeinsam gegen Ausbeutung und für eine gerechte Welt kämpfen! Das ist insgesamt als sozialistischer Verband unser Ziel.

Maßnahmen

– Methodenschulungen und Leitfäden entwickeln zu antirassistischer Verbandspraxis und in Landesverbänden Kernaktive und Landessprecher:innenräte zur Teilnahme anhalten
– Realistische Zielsetzung in Landessprecher:innenräten zu Antirassismus und regelmäßige Überprüfung
– Nutzung der Evaluation zur Entwicklung eines Konzepts für Ansprache in den Basisgruppen
– Austausch der Landesverbände zu Antirassismus
– Austausch auf Landesebene zwischen Basisgruppen.
– Gezielte Ansprache und Förderung sicherstellen durch thematische Themensetzung bei Bildungsveranstaltungen
– Für Themen, die nicht Rassismus sind, wird darauf geachtet, migrantisierte Mitglieder als Referent:innen zu befähigen und anzufragen
– Förderangebote für migrantisierte Mitglieder erproben und evaluieren, wer von welchem Angebot wie gut erreicht wird. Das kann ein Förderwochenende für migrantisierte Mitglieder auf Bundesebene sein oder auch, diese stärker in bestehende Angebote einzubeziehen. Förderung geschieht am besten auf Basis- und Landesebene, je nach individueller Lage der Basisgruppen & Landesverbände kann sie aber auch auf Bundesebene ausgetestet werden.
– Aktiv werden in Gewerkschaften. Arbeitskämpfe unterstützen und insbesondere auch die von migrantischen Arbeiter:innen
– Austesten von Vernetzungstreffen in Regionen, an denen noch nicht viele migrantisierte Mitglieder aktiv sind.
– Online-Vernetzungsgruppe für Linksjugend-Mitglieder mit Migrationshintergrund.
– Migrantische Vernetzung auf Bundesveranstaltungen.
– Aktivwerden von Basisgruppen in Stadtteilen oder Kiezen mit vielen migrantischen Personen (Infostände, Stadtteilfest, weiteren Aktionen).
– Dolmetscher:in bei offiziellen Veranstaltungen, Flyer in mehreren Sprachen.
– Kontakt und Zusammenarbeit mit migrantischen Gruppen und Vereinen.
– Kultur miteinander teilen (z.B. Musik, Feste und Essen).
– Offene Willkommenskultur bei unseren Veranstaltungen etablieren.
– Nahbare Außenkommunikation mit freundlicher und gleichzeitig schlagkräftiger Ausstrahlung. Der Bundessprecher:innenrat & die AG Antirassismus werden beauftragt, zu evaluieren, wie wir durch unsere Öffentlichkeitsarbeit migrantisierte Menschen ansprechen und verschiedene Formate auszuprobieren. Die Themensetzung vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Evaluation sollte dabei berücksichtigt werden.

Begründung:


Erkenntnisse der Verbandsumfrage und Interviews:

-eine erste Erkenntnis: migrantisierte Menschen kommen später zur Linksjugend als nicht-migrantisierte

-zudem kommen migrantisierte Menschen auch öfter aus nicht-akademischen Haushalten, sind aber oft selbst angehende Akademiker:innen. daraus wird ersichtlich: die Linksjugend spricht „Bildungsaufsteiger:innen an; Armut, prekäre Arbeitsverhältnisse der Eltern sind zentral für die Politisierung (das zieht sich aber in der Linksjugend bei allen Mitgliedern durch), d.h. soziale Hintergründe prägen die Interessen

-dritte, sehr wichtige Erkenntnis: wir können eine Veränderung bei den Interessen von Menschen mit und ohne Rassismuserfahrung feststellen; während sich Menschen ohne Rassismuserfahrung in fast allen Themen und Interessen weiterentwickeln, entwickeln sich Menschen mit Rassismuserfahrung fast nur im Themenbereich Antirassismus weiter

-Daneben haben auch die Interviews mit migrantisierten Mitgliedern in Verantwortungspositionen gezeigt:
…migrantisierte Menschen auch aus der Umfrage dürfen nicht als homogene Masse wahrgenommen werden und der Bezug zu den eigenen Rassismuserfahrungen kann extrem verschieden sein
…migrantisierte Menschen wünschen sich mehr Veranstaltungen an Orten, wo mehr migrantisierte Menschen leben
…auch werden migrantisierte Mitglieder häufiger überredet, in Ämter zu gehen, ohne sie davor und währenddessen zu stärken (dann oft Überlastung)
…auch wird migrantisierten Mitgliedern oft implizit oder explizit die Verantwortung für antirassistische Politik & Perspektiven zugeschoben (z.B. Bildungsarbeit wegen Argumentation mit „Sprechort“)