Für einen materialistischen Antirassismus!

Beschluss des XV. Bundeskongresses am 04.-06. November 2022 in Magdeburg

“You can’t have capitalism without racism”
– Malcolm X


Hanau, Christchurch, Buffalo: Die Realität entlarvt den liberalen Mythos der immer fortschreitenden Toleranz als Lüge.

Die letzten Jahre zeigten uns auf brutalste Weise, dass Rassismus kein Thema der Vergangenheit ist. Ob durch rechten Terror, rassistische Polizeigewalt oder beiläufige Alltagsdiskriminierung: Von Rassismus betroffene Menschen können sich nicht sicher fühlen. Während rechtsterroristische Anschläge hauptsächlich von ideologisch halbwegs gefestigten Faschist:innen ausgehen, ist Rassismus insgesamt aber ein Phänomen, was über diese Gruppe deutlich hinausgeht – ein gesamtgesellschaftliches, systemisches Problem.

Für uns als antifaschistischen und antirassistischen Jugendverband ist klar: Wir stellen uns immer und überall gegen Rassismus und an die Seite der Betroffenen.

Doch woher kommt dieser Rassismus? Ist er ein Relikt längst vergangener Zeiten? Denken Menschen nun einmal gern in Gruppen? Oder lässt sich das vielleicht evolutionsbiologisch begründen?

Während liberale Antirassist:innen Rassismus als schlechte Idee in den Köpfen der Menschen verstehen, die man ihnen mit Anti-Rassismus-Trainings abgewöhnen und damit das Problem lösen kann, vertreten wir einen materialistisch fundierten Antirassismus.

Rassismus ist keine „veraltete“ Sache, die sich noch in den Köpfen Rechter wiederfindet, sondern Merkmal und Produkt der kapitalistischen Ordnung, in der wir derzeit leben und deren Entstehung von Anfang an eng mit der Geschichte von Kolonialismus und Imperialismus verflochten war: Die Entstehung des Kapitalismus als eines immer auf Wachstum ausgerichteten Systems in Westeuropa war eine der entscheidenden Triebkräfte hinter der kolonialen Expansion westeuropäischer Staaten. Die entstehende europäische Textilindustrie – eine der ersten klassisch kapitalistisch organisierten Branchen – basierte ihren wirtschaftlichen Erfolg aus dem kolonialen „Dreieckshandel“, der Sklav:innen in Afrika nach Nordamerika brachte, um dort Baumwolle für Westeuropa anzubauen. Diese Ausbeutung von versklavter Arbeitskraft beschleunigte den Aufstieg des westeuropäischen Kapitalismus weiter, der seinen Expansionskurs brutal auch auf militärischem Wege fortsetzte, bis nahezu die ganze Welt kapitalistischen Logiken unterlag und wurde ergänzt durch imperialistische und koloniale Prozesse, die sich anderen Zielen widmeten: Die Kolonialisierung großer Teile Asiens, die Expansion Deutschlands und Österreichs in den Osten und Süden…

Zwar gibt es heute nur noch wenige direkte Kolonien, die imperialistische Ausbeutung und Beherrschung großer Teile der Welt geht aber weiter:
Das Verhältnis von Kolonialmächten und Kolonien, was von direkter, militärischer Herrschaft geprägt war, wandelte sich historisch (auch als Reaktion auf erfolgreiche antikoloniale Kämpfe) zu einem stärker wirtschaftlich geprägten Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen zwischen den kapitalistischen Zentren (v.a. Nordamerika, Westeuropa und Ostasien) und der Peripherie (große Teile Afrikas, Lateinamerikas und Asiens; bis zu einem gewissen Grad auch Osteuropa), wobei nicht mehr separierte Kolonialreiche die imperialistische Unterdrückung und Ausbeutung organisieren, sondern der Kapitalismus endgültig zu einem Weltsystem geworden ist.

Die Ausbeutung von rassifizierten Arbeiter:innen lässt sich dabei mit dem Begriff der Überausbeutung beschreiben: Alle Arbeiter:innen werden im Kapitalismus ausgebeutet, rassifizierte Arbeiter:innen werden aber über das „normale“ Maß hinaus überausgebeutet. Diese Überausbeutung erscheint in unterschiedlichen Formen, bspw. durch unterschiedliche Lohnniveaus, aber auch durch direkte Formen von Arbeit unter unmittelbarem Zwang, also Sklaverei.

Der globalisierte Kapitalismus hat dieses Ausbeutungsverhältnis aber nicht als eins zwischen Zentrum und Peripherie belassen:

Bewusste Anwerbung (in der BRD z.B. durch die Anwerbeabkommen für Gastarbeiter:innen), Migration aus ehemaligen Kolonien in die ehemaligen Kolonialstaaten, freiwillige Migration aus eigenem Antrieb, wirtschaftliche Zwänge und Flucht vor – oft genug von den kapitalistischen Zentren unterstützter oder direkt begonnener – Krieg sorgten dafür, dass Millionen Menschen aus der Peripherie in die Zentren migrierten. Das verbessert ihre Lage aber oft nur begrenzt:
In den Zentren werden sie rassifiziert und damit als minderwertig klassifiziert. Ihr Leben ist ständig von Polizeigewalt und rechtem Terror bedroht und sind zahlreichen Formen der Diskriminierung ausgesetzt.

Wichtig für uns als Sozialist:innen ist dabei der ökonomische Aspekte dieser Rassifizierung:
Die Überausbeutung endet nicht an den Grenzen der Peripherie, sondern setzt sich bei der Arbeit rassifizierter Menschen in den Zentren fort. Einige Autor:innen sprechen beispielsweise im Zusammenhang mit afroamerikanischen Communities in den USA deshalb von „inneren Kolonien“.

Auch und insbesondere in Deutschland ist die Überausbeutung migrantischer Arbeiter:innen eine der Säulen des hiesigen Kapitalismus: Prekäre Arbeitsbereiche wie die Leiharbeit haben einen deutlich überproportionalen Anteil an migrantischen Arbeiter:innen. Diese Bereiche sind entscheidend für die Herausbildung des hochflexiblen neoliberalen Kapitalismus, in dem wir heute leben.

Während der Corona-Pandemie wurde insbesondere auf die brutale Überausbeutung slawischer Arbeiter:innen aus den östlichen Staaten der EU ein neues Licht geworfen:
Ob es ums Spargelstechen zu Hungerlöhnen unter desaströsen Arbeitsbedingungen oder um die Unterbringung überwiegend slawischer Arbeiter:innen auf engstem Raum in den Schlachtfabriken von Tönnies geht – da, wo man besonders billige Arbeiter:innen braucht, setzt das deutsche Kapital auf (oft nur temporäre) Arbeitsmigration aus Osteuropa.

In einer der brutalsten Branchen des heutigen Kapitalismus wird dies besonders deutlich:
Prostitution ist in Deutschland wie keine andere Branche migrantisch geprägt. Über 80% der offiziell gemeldeten Prostituierten hat keine deutsche Staatsangehörigkeit, die meisten kommen aus Osteuropa (allein aus Rumänien kommen 35 % der gemeldeten Prostituierten). Nur ein kleiner Teil der Prostituierten ist offiziell gemeldet, deshalb kann man über die realen Zahlen nur spekulieren. Am Beispiel Prostitution kann man aber gut verstehen, wie Armut, Rassifizierung und Patriarchat ineinandergreifen. Ähnliche Überschneidungen verschiedener Achsen von Unterdrückung kann man in vielen Bereichen der Sorgearbeit beobachten, insbesondere in der Pflege und bei oft besonders ausbeuterischer Putz- und Haushaltsarbeit.

Dieses Ausmaß an Ausbeutung – sowohl auf globaler Ebene als auch innerhalb der kapitalistischen Zentren – ist natürlich rechtfertigungsbedürftig. Hier kommt die rassistische Ideologie ins Spiel, die für Liberale der Ausgangspunkt rassistischer Unterdrückung ist, aus unserer materialistischen Gesellschaftsanalyse heraus aber als ihr Produkt zu betrachten ist:
Um die reale, durch Ausbeutung und Unterdrückung geschaffene Ungleichheit zu rechtfertigen, haben sich mit Beginn des Kolonialismus verstärkt sogenannte „Rassenlehren“ herausgebildet, die die Ungleichheit zur Ungleichwertigkeit machen und dabei biologisieren, also zu einer „natürlichen“ Eigenschaft der Menschen machen. Mit der Wandlung weg von der klassischen kolonialen Ordnung hat die rassistische Ideologie auch Wandlungen erfahren: Heute existiert – neben immer noch verbreiteter biologistisch-rassistischer Ideologie – ein Kulturrassismus, der, statt mit angeborenen Eigenschaften mit einer angeblich rückschrittlichen kulturellen Prägung argumentiert, dabei aber genauso das Individuum nur als Vertreter:in einer konstruierten Gruppe sieht, dem bestimmte, meistens abwertende Eigenschaften am Ende auch nur wegen Herkunft zugeschrieben werden.

Rassistische Ideologie hat dabei eine Eigendynamik, die über ihre Funktionalität für den Kapitalismus hinausgeht: Bestimmte, brutale Formen des Rassismus sind für das deutsche Kapital sogar ausgesprochen schädigend, da sie die pure Präsenz rassifizierter Menschen in Deutschland ablehnen, deren Überausbeutung dem Kapital aber nutzt. Trotz dieser Widersprüche, die sich zwischen rassistisch strukturiertem Kapitalismus und rassistischer Ideologie teilweise ergeben, wird es aber immer rassistische Ideologie geben, solang der Kapitalismus nicht überwunden wird.

Diese Analyse von Rassismus als Teil der kapitalistischen Ordnung hat Auswirkungen auf die strategische Orientierung im antirassistischen Kampf:
Während Liberale glauben, rassistische Polizeigewalt durch Anti-Rassismus-Trainings in Polizeischulen bekämpfen zu können und ihren absoluten Schwerpunkt auf (natürlich auch sinnvolle) Sprachpolitik legen, muss eine auf einer materialistischen Rassismusanalyse basierende antirassistische Strategie den antirassistischen Kampf als ökonomischen Kampf verstehen. Ihr Kernansatz kann nicht sein, Nicht-Betroffene mit moralischen Argumenten davon zu überzeugen, individuelles rassistisches Verhalten einzustellen. Stattdessen muss sie darauf setzen, die politische und organisatorische Spaltung zwischen rassifizierten und nicht-rassifizierten Arbeiter:innen, die aus ihrer unterschiedlichen Stellung im Kapitalismus erwächst, aufzuheben, und eine multiethnische Arbeiter:innenbewegung aufzubauen, die ein Bewusstsein für die besondere Unterdrückung rassifizierter Menschen hat und da, wo gewollt, deren autonome Organisierung innerhalb der gemeinsamen Bewegung unterstützt.

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