Beschluss des XVI. Bundeskongresses II. Tagung vom 23.-24. Februar 2024
Vor dem nächsten Bundeskongress wird die Antragsberatungskommission an einem neuen
Ansatz für die Priorisierung von Anträgen arbeiten. Dieser Ansatz kombiniert die
Priorisierung durch die Kommission selbst mit direkten Abstimmungen unter den
Delegierten des Bundeskongresses.
Die Kommission wird weiterhin Anträge nach ihrem Inhalt gruppieren und solche
priorisieren, die beispielsweise aufgrund ihrer Dringlichkeit, ihrer allgemeinen
politischen Bedeutung, ihres starken Rückhalts im Verband oder ihrer unmittelbaren
Auswirkungen auf die Verbandsarbeit in naher Zukunft besonders wichtig sind. Dadurch
soll vermieden werden, dass nur besonders umstrittene Anträge behandelt werden,
während wichtige, aber weniger emotionale Anträge vernachlässigt werden und die
Handlungsfähigkeit des Verbands gefährdet wird.
Zu inhaltlichen Anträgen oder Themenfeldern, die sich nicht durch genannte Faktoren
hervorheben, soll eine direktdemokratische Priorisierung stattfinden. Konkret heißt
das, dass die Antragsberatungskommission eine Abstimmung zu Beginn des
Bundeskongresses vorbereitet, bei der der Bundeskongress direktdemokratisch
entscheiden kann, welche Anträge oder Themenfelder in welcher Reihenfolge behandelt
werden.
Beschluss des XVI. Bundeskongresses II. Tagung vom 23.-24. Februar 2024
Die neoliberale Wende, die verstärkt seit den 1980er Jahren von Regierenden in den
entwickelten kapitalistischen Ländern eingeleitet worden ist und die auf eine
Kräfteverschiebung zugunsten des Kapitals und auf Kosten der Arbeit abzielte, zeigt
sich auch in der Schuldenbremse.
Die Schuldenbremse ist dabei eine verfassungsrechtliche Regelung, die die
Kreditaufnahme durch öffentliche Haushalte stark einschränkt. Sie wurde in
Deutschland erstmals 2009 auf Wirken der Großen Koalition durch eine Änderung des
Grundgesetzes im Bund verankert. Im nachfolgenden Jahrzehnt folgten viele
Bundesländer dem Beispiel des Bundes. In dieser Form ist sie in Deutschland
einzigartig. Keine andere entwickelte Industrienation verfügt über eine vergleichbare
Institution.
Durch die Schuldenbremse werden öffentliche Haushalte faktisch daran gehindert,
öffentliche Güter auszufinanzieren, Sozialleistungen bedarfsgerecht bereit zu stellen
und dringend benötigte Investitionen, wie etwa im Hinblick auf die ökologische
Transformation der Wirtschaft, zu tätigen. Sie ist eine in der Verfassung
festgeschriebene Austeritätspolitik. Das zeigt sich auch aktuell, wo die
Ampelkoalition bei vielen Sozialausgaben kürzt, um die Schuldenbremse einzuhalten.
Die dadurch vertiefte soziale Ungleichheit bildet erst den Nährboden, auf denen die
AfD ihre menschenverachtende Konkurrenzideologie ausbreiten kann. Der AfD gelingt es
dadurch, den gesellschaftlichen Diskurs sowie die Bundesregierung nach rechts zu
drängen, was sich etwa in der Verschärfung des Asylrechts zeigt.
Im Interesse der Arbeiter*innenklasse gilt es, die Schuldenbremse abzuschaffen. Dazu
ist aber eine Analyse über die ökonomische Wirkungsweise der Schuldenbremse
notwendig. Auch muss herausgearbeitet werden, welche Klassen und Klassenfraktionen
ein Interesse an einer Abschaffung der Schuldenbremse haben, um so bündnispolitische
Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.
Analyse der Schuldenbremse
Im Gegensatz zu den Einschätzungen einiger linker Gegner*innen der Schuldenbremse,
wonach es sich bei der Schuldenbremse um eine irrationale Ideologie handelt, die der
Wirtschaft klassenübergreifend nur Nachteile verschaffe, stärkt die Schuldenbremse
die Verhandlungsposition des Kapitals gegenüber der Arbeit in dreifacher Hinsicht:
Erstens werden durch die Schuldenbremse Sozialausgaben gekürzt und die Ausgaben für
öffentliche Güter eingespart, wie man derzeit etwa an den Bürgergeld-Kürzungen der
Ampelkoalition sieht. Dadurch wird die Marktabhängigkeit von Arbeiter*innen erhöht.
Das bedeutet, dass Arbeiter*innen ihre Bedürfnisse im geringeren Ausmaß durch die
Inanspruchnahme von Sozialleistungen und von (meist vergünstigten oder kostenlosen)
öffentlichen Dienstleistungen decken können. Um ihre Bedürfnisse dennoch zu
befriedigen, werden Arbeiter*innen abhängiger vom Einkommen, das sie aus dem Verkauf
ihrer Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt erzielen. Dadurch sinkt der Reservationslohn,
d.h. die Mindesthöhe des Lohns, zu dem ein Arbeitnehmer gerade noch bereit ist, seine
Arbeitskraft zu verkaufen. Damit sinkt das Lohnniveau und steigen die Profite der
Kapitalist*innen. Die Arbeiterschaft wird durch die verstärkte Marktabhängigkeit
zudem diszipliniert und Arbeitskämpfe werden im Keim erstickt, was die Autorität der
Kapitalist*innen stärkt.
Zweitens verhindert die Schuldenbremse eine Wirtschaftspolitik, die für
Vollbeschäftigung sorgt. Das bedeutet, dass der Staat durch die Schuldenbremse stark
eingeschränkt wird, öffentliche Investitionen zu tätigen und den Massenkonsum zu
subventionieren, um dadurch die effektive Nachfrage bis zu einem Punkt zu steigern,
an dem Vollbeschäftigung erreicht sein würde. Wie der polnische, von Karl Marx und
John Maynard Keynes beeinflusste Ökonom Michał Kalecki allerdings bemerkte,¹ würde
durch eine Politik der Vollbeschäftigung die disziplinierende Wirkung von
Arbeitslosigkeit auf die Arbeiter*innenklasse verloren gehen. Die Drohung des Chefs,
jemanden bei allzu laxer Arbeitsmoral „aufs Pflaster zu werfen“, wäre bei
Vollbeschäftigung, bei der Arbeiter*innen ohne viel Mühe einen anderen Arbeitsplatz
finden würden, nicht sehr wirkungsvoll. Die Schuldenbremse ist damit wiederum der
bester Garant für die Aufrechterhaltung der Autorität von Kapitalist*innen in ihren
Betrieben. Auch würde mit Vollbeschäftigung die Streikbereitschaft der Arbeiter*innen
steigen. Steigende Löhne und sinkende Profite wären die Folge, was ebenfalls nicht im
Klasseninteresse der Kapitalist*innen liegt.
Drittens schränkt die Schuldenbremse ganz allgemein die Handlungsfähigkeit des
Staates ein und macht staatliche Wirtschaftspolitik abhängiger von den Wünschen der
Kapitalist*innen. In einer Rezession wird dem Staat durch die Schuldenbremse die
Möglichkeit genommen, durch öffentliche Investitionen und Ankurbelung des
Massenkonsums die Krise zu überwinden. Stattdessen muss der Staat die Bedingungen für
private Investitionen verbessern. Dies gibt den Kapitalist*innen eine mächtige
indirekte Kontrolle über die Regierungspolitik. Die Schuldenbremse zwingt die
Politiker*innen in Regierungsverantwortung automatisch nach der Pfeife des Kapitals
zu tanzen.
Darüber hinaus gibt es aus Sicht der Kapitalist*innenklasse auch gute Gründe für eine
Abschaffung der Schuldenbremse:
Erstens wird der Staat durch die Schuldenbremse in seiner Rolle als ideeller
Gesamtkapitalist eingeschränkt. Kapitalist*innen sind in vielerlei Hinsicht von einer
gut funktonierenden öffentlichen Infrastruktur abhängig sowie von – zumeist in
öffentlichen Bildungseinrichtungen – ausgebildeten Arbeitskräften. Eine mangelnde
öffentliche Infrastruktur wirkt als Bremse fürs private Geschäft.
Zweitens verhindert die Schuldenbremse öffentliche Investitionen in die ökologische
Transformation der Wirtschaft. Wie der Brandbrief von 50 namhaften deutschen
Unternehmen (u.a. Puma, Rossmann, Telekom und Thyssenkrupp) vom Januar 2024 zeigt,
haben Teile der Kapitalist*innenklasse ein Interesse an einem klimafreundlichen Umbau
der Wirtschaft. Dies tun sie aber nicht aus schlechtem Gewissen, sondern weil der
„Standort Deutschland“ in Bezug auf klimafreundliche Technologien in der
internationalen Konkurrenz abgehängt zu werden droht, wie der Verweis auf die
Vereinigten Staaten und China im Brandbrief zeigt, die „gewaltige Summen in die
Transformation“ investierten. Die unterzeichnenden Unternehmen fordern daher eine
„Weiterentwicklung der Schuldenbremse“, also eine Aufweichung dieser, wenngleich
nicht ihre Abschaffung.²
Drittens kann eine Politik, die auf eine Stärkung der Kaufkraft abzielt – die aber
durch die Schuldenbremse verhindert wird – insbesondere in Zeiten einer Rezession den
Unternehmen dabei helfen, ihren Absatz zu steigern. Davon profitieren insbesondere
Branchen, die unmittelbar für den Konsum produzieren. Es gilt allerdings zu beachten,
dass eine Stärkung der effektiven Nachfrage auch zu steigenden Löhnen auf Kosten der
Profite führt, wie oben erläutert. Insbesondere in einer exportorientierten
Wirtschaft wie der deutschen hat eine Stärkung der Binnennachfrage allein den
negativen Effekt auf die Kapitalist*innen, dass steigende Löhne die Profite
auffressen, ohne dass dadurch der Absatz gestärkt werden würde. Das liegt daran, dass
sich die Nachfrage für diese exportorientierten Industrien nicht im Inland, sondern
im Ausland befindet. Diese widersprüchliche Interessenkonstellation des Kapitals kann
auch historisch anhand des New Deal in den Vereinigten Staaten aufgezeigt werden, der
ein in der Geschichte der USA einmaliges Programm zur Steigerung der Massenkaufkraft
darstellte. Während nämlich insbesondere die Kapitalist*innen der konsumorientierten
Wirtschaftszweige, wie der Elektronik- und Bekleidungsindustrie, den keynesianischen
New Deal unterstützten, gehörten die Kapitalist*innen der arbeitsintensiven
Industrien, die von Lohnsteigerungen am meisten negativ betroffen waren, tendenziell
zu den Gegner*innen der Politik Roosevelts.³
Strategie gegen die Schuldenbremse
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass eine antizyklische Investitionspolitik in
Zeiten einer Rezession gegen rechts hilft. Während in Deutschland die
Weltwirtschaftskrise mit einer rabiaten Sparpolitik unter dem Reichskanzler Heinrich
Brüning beantwortet wurde und so dem Faschismus den Weg bereitete, gelang es
fortschrittlichen Kräften in den USA 1932 das Ruder herumzureißen. Durch ein
Klassenbündnis, das die Arbeiter*innenklasse in Form von Gewerkschaften und Teile der
Kapitalist*innenklasse umfasste, wurde unter der Präsidentschaft Franklin D.
Roosevelts der New Deal umgesetzt – ein umfassendes Investitionsprogramm in Arbeit,
Kultur, Bildung und Infrastruktur. Er erwirkte enorme Lebensverbesserungen für viele
Arbeiter*innen. Auch Teile der Kapitalist*innenklasse profitierten von einer Stärkung
der Massenkaufkraft. Damit wurde ein Weg aus der Krise aufgezeigt, der sich von der
Sparpolitik Brünings abhob und den Aufstieg faschistischer Bewegungen entgegenwirkte.
Auch heute kann eine solche Politik, die auf die Stärkung der Massenkaufkraft
abzielt, die Unzufriedenheit in breiten Teilen der Bevölkerung verringern. Damit wird
der AfD, die diese Unzufriedenheit für ihre rassistische Politik instrumentalisiert,
das Wasser abgegraben.
Weil die Kapitalist*innenklasse bei der Schuldenbremse gespalten ist, macht es für
uns als Sozialist*innen Sinn, in dieser Frage eine „Volksfrontstrategie“ zu
verfolgen. Das bedeute, dass wir bei Bündnissen gegen die Schuldenbremse neben
Gewerkschaften, Sozialverbänden und anderen Akteur*innen, die die Interessen von
Arbeiter*innen vertreten, auch die Teile der Kapitalist*innenklasse mit ins Boot
holen, die auf eine Aufweichung oder Abschaffung der Schuldenbremse hinwirken. Wie
Karl Marx und Friedrich Engels im „Manifest der Kommunistischen Partei“ schrieben,
erringt die Arbeiter*innenklasse reformerische Erfolge in ihrem Sinne auch dadurch,
„indem sie die Spaltungen der Bourgeoisie unter sich benutzt.“⁴
Zugleich hat die jahrzehntelange ideologische Indoktrination durch Politik und Medien
eine Situation geschaffen, in der ein Großteil der Bevölkerung die Beibehaltung der
Schuldenbremse befürwortet. Um diesen Zustand zu bekämpfen braucht es neben einer
klugen Bündnispolitik auch eine umfassende ökonomische „Alphabetisierung“ der
Bevölkerung und den Aufbau einer überzeugenden Gegenerzählung zur Metapher der
„schwäbischen Hausfrau“ für öffentliche Haushalte.
In linken Kontexten müssen wir zudem der keynesianisch inspirierten Erzählung
entschieden entgegentreten, wonach das Festhalten an der Schuldenbremse und eine
Sparpolitik irrational sei, weil dies der Wirtschaft klassenübergreifend nur
Nachteile verschaffe. Diese Erzählung ignoriert den Klassenwiderspruch und die
Tatsache, dass Austeritätspolitik allgemein die Verhandlungsposition der Arbeit
gegenüber dem Kapital schwächt.
—–
Anmerkungen:
¹ vgl. Kalecki, Michał [1943] (2018): Political Aspects of Full Employment.
jacobin.com. Online verfügbar unter:
https://jacobin.com/2018/05/political-aspects-of-full-employment-kalecki-job-
guarantee, zuletzt geprüft am 11.02.2024
² Zitate aus: Stiftung KlimaWirtschaft (2024): Die Transformation als
Jahrhundertprojekt. Was die Wirtschaft von der Politik braucht. klimawirtschaft.org.
Online verfügbar unter:
https://klimawirtschaft.org/publikationen/positionen/unternehmensappell2024, zuletzt
geprüft am 11.02.2024
³ vgl. Phillips-Fein, Kim (2009): Invisible Hands. The Businessmen’s Crusade Against
the New Deal. New York, London: W. W. Norton, Kapitel 1: Paradise Lost [ebook]
⁴ MEW 4, S. 471
Beschluss des XVI. Bundeskongresses II. Tagung vom 23.-24. Februar 2024
Die linksjugend [’solid] erkennt an, dass Antisemitismus in unserer Gesellschaft seit
Jahrhunderten verankert ist. Viele unserer Vorfahren tragen Schuld, dass dieser
Antisemitismus im unvergleichlichem Verbrechen am jüdischen Volk, der Shoa, gipfelte.
Mit dem Sieg über den deutschen Faschismus wurde der Antisemitismus keineswegs
überwunden. Antisemitische Verschwörungserzählungen beschränken sich nicht auf
neonazistische Kleingruppen, sondern stoßen in vermeintlich über politischen
Massenbewegungen auf breite Akzeptanz. Im Kontext des eskalierenden Nahostkonfliktes
werden jüdische Menschen immer häufiger angegriffen und für die Politik des
israelischen Staates verurteilt. Doch genau weil der gesellschaftliche Antisemitismus
so anpassungsfähig und perfide ist, können seine Ausprägungen nicht erschöpfend
aufgezählt werden.
Als antifaschistischer Jugendverband verstehen wir es als unsere historische und
politische Verantwortung, den gesellschaftlichen Antisemitismus in allen seinen
Erscheinungsformen anzugreifen. Dieser Verantwortung können wir aber nur dann gerecht
werden, wenn wir fähig sind, einen kontinuierlich veränderlichen und oft verdeckt
auftretenden Antisemitismus als solchen zu erkennen und zu benennen. Voraussetzung
dafür ist eine robuste und akademisch anerkannte Antisemitismusdefinition.
Als linksjugend [’solid] setzen wir unserer Analyse und Kritik von Antisemitismus
deswegen die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (JDA) zur Grundlage. Die JDA
wurde von Antisemitismusforscher:innen entwickelt, und wird von vielen renommierten
Wissenschaftler:innen unterstützt. Ziel der JDA ist es, eine präzise
Antisemitismusdefiniton zu liefern, und anhand von Beispielen aufzuzeigen, welche
Aussagen und Handlungen, auch im Kontext des Nahostkonfliktes, in jedem Fall
antisemitisch sind, und welche nicht. Die Verfasser:innen und Unterstützer:innen der
JDA vertreten unterschiedliche Positionen zum Nahostkonflikt. Ziel der JDA ist es
nicht, in diesem Konflikt eine bestimmte Position vorwegzunehmen, sondern die
Antisemitismusdefinition gegen Missverständnisse, Unklarheiten und politische
Instrumentalisierung abzusichern.
Als pluralistischer Jugendverband ist es uns wichtig, dass wir Räume schaffen, in dem
junge Menschen miteinander Diskutieren, und ihre eigene Position herausbilden können.
In diesen Räumen müssen inakzeptablen Aussagen klare Grenze gesetzt werden, und diese
Grenzen begründet werden. Auf Grundlage der JDA können wir diesem Anspruch in Bezug
auf Antisemitismus gerecht werden. Innerhalb dieser Grenzen hindert die JDA uns nicht
daran, individuell und als Verband politische Positionen zu beziehen und nach außen
zu vertreten, und unser Ziel ist es weiterhin unsere Positionierung selbstkritisch
und kontinuierlich zu reflektieren, und gemeinsam an aktuelle Entwicklungen angepasst
auszuarbeiten.
Die gesamte Jerusalemer Erklärung auf Deutsch:
https://jerusalemdeclaration.org/wp-content/uploads/2021/03/JDA-deutsch-final.ok_.pdf
Website der Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus auf Englisch, inklusive der
Unterzeichner:innen:
https://jerusalemdeclaration.org/
Beschluss des XVI. Bundeskongresses II. Tagung vom 23.-24. Februar 2024
Die schrecklichen Ereignisse in Israel und Palästina, die uns in den vergangenen
Monaten tief erschüttert und bewegt haben, zeigen einmal mehr, dass ein „Weiter so!“
unmöglich ist. Solange es keine grundlegende Lösung gibt, die die Interessen aller
Bevölkerungsgruppen in Israel und Palästina berücksichtigt, wird es immer wieder zu
Gewalt und Leid in unerträglichem Ausmaß kommen. Gleichzeitig verstärkt der Israel-
Palästina-Konflikt autoritäre Tendenzen im Inneren von Israel und Palästina und trägt
zur wachsenden Dominanz der extremen Rechten in beiden Gebieten bei. Ohne eine Lösung
des Konflikts sind dem Kampf für Demokratie, Emanzipation und soziale Gerechtigkeit
sowohl in Israel als auch in Palästina immer Grenzen gesetzt.
Die Linksjugend [‘solid] stellt fest:
1. Forderungen, die auf die Vertreibung entweder der jüdischen oder der
palästinensischen Bevölkerung hinauslaufen, sind zutiefst menschenfeindlich.
Keine politische Lösung, die massenhafte Vertreibung der derzeit dort lebenden
Menschen aus der Region voraussetzt, wird Frieden und Gerechtigkeit bringen.
2. Seit der Gründung des Staates Israel war die palästinensische Bevölkerung
stets Subjekt einer gewalttätigen und entwürdigenden Politik. Die
menschenverachtende Politik der aktuellen extrem-rechten Israelischen Regierung
findet angesichts der Massakrierung und Vertreibung von Millionen
Palästinensern im Gazastreifen einen Höhepunkt. Das riesige Ausmaß an Tod und
Zerstörung in der Enklave betont die Wichtigkeit einer humanen und friedlichen
Lösung des Konfliktes.
3. Sowohl Zionismus als auch palästinensische Nationalbewegung knüpfen an reale
Unterdrückungserfahrungen der jüdischen bzw. der palästinensischen Bevölkerung
an. Sowohl Israelis als auch Palästinenser:innen bauen ihre nationale Identität
auf eine lange Geschichte von Präsenz in der Region auf. Wie jeder Nationalismus
auf der Welt sind auch die jeweiligen Nationalismen hier teilweise mythologisch
aufgeladen und interpretieren Geschichte stromlinienförmiger, als sie ist, aber
beide nationalen Identitäten können an eine reale Geschichte von Präsenz in und
Vertreibung aus der Region, die heute Israel und Palästina bildet, anknüpfen.
4. Es gibt sowohl in Israel als auch in Palästina bei der überwältigenden Mehrheit
jeweils die Forderung danach, einen eigenen israelischen bzw. palästinensischen
Staat zu haben. Ökonomisch hat man es mit zwar eng verflochtenen Gebieten zu
tun, zwischen denen aber in Bezug auf Einkommen, Vermögen, Infrastruktur und
Wirtschaftsstruktur ein gigantischer Graben liegt. Weder eine Ein-Staaten-Lösung
noch zwei Staaten, die ihre Angelegenheiten vollkommen getrennt behandeln,
scheinen also materiell lebensfähig zu sein.
5. Israel und Palästina sind beide Länder, in denen verschiedene Klassen um die
Macht ringen, in denen es verschiedene ethnische Gruppen mit anderen
Hintergründen gibt und in denen verschiedene politische Programme – sowohl
generell als auch bezogen auf die Lösung des Nahostkonflikts – miteinander
konkurrieren. Eine Positionierung zum Konflikt, die Nationen nicht als
historisch entstandene Konstrukte, sondern als einheitlich handelnde Kollektive
auffasst, wird der Realität also nicht gerecht.
Die Linksjugend [‘solid] beschließt deshalb:
1. Wir stehen für Selbstbestimmung, Sicherheit, Gerechtigkeit und Frieden in Israel
und Palästina ein. Diese Ziele können nicht auf militärischem Weg oder durch den
Sieg einer der kriegsführenden Strukturen errungen werden, sondern nur durch den
gemeinsamen Kampf der israelischen und palästinensischen Arbeiter:innenklasse
für eine politische Lösung des Konflikts und eine demokratische und soziale
Ordnung in der Region, die Selbstbestimmung und kollektive wie individuelle
Rechte von Israelis und Palästinenser:innen wahrt.
2. Wir treten deshalb als konkrete realpolitische Perspektive in der politischen
Auseinandersetzung für eine von der Bewegung vor Ort geforderte Zwei-Staaten-
Lösung ein. Neben einem demokratischen, souveränen Staat Israel steht bei dieser
auch ein demokratischer, souveräner Staat Palästina. Diese Staaten müssen jedoch
mit der Realität umgehen, dass sie in einem gemeinsamen Raum befinden und durch
enge Verbindungen geprägt sind. Eine völlige Separation in allen Fragen wäre
nicht machbar und würde zu weiterem Leid führen, weshalb Ansätze wie das „Two
States, One Homeland“-Konzept zu berücksichtigen sind, die die Zwei-Staaten-
Lösung mit konföderalen Elementen kombinieren. Grundsätzlich befürworten wir
alle Lösungen, die demokratischen Rückhalt genießen und die volle Gewährleistung
voller individueller und kollektiver Rechte garantieren. Diese müssen dabei
nicht auf einen staatlichen Rahmen innerhalb des momentanen politischen Systems
begrenzt sein.
3.Aufgrund der engen Verflechtungen zwischen Israel und Palästina und der
multiethnischen Realität auf diesem Gebiet braucht es in vielen Fragen
gemeinsame politische Institutionen, beispielsweise in der Frage der
Wasserversorgung, in wirtschaftlichen Fragen und bzgl. gemeinsamer
Sicherheitskonzepte.
4.Auch nach dem Erreichen einer Zwei-Staaten-Lösung werden weiterhin Menschen mit
palästinensischer Identität in Israel und Menschen mit israelischer Identität in
Palästina leben. Auch freundschaftliche und familiäre Bindungen werden nicht an
der Grenze stoppen. Es braucht deshalb Bewegungsfreiheit sowie
grenzüberschreitend gültige und durchsetzbare Rechte für alle Bewohner:innen von
Israel und Palästina. Diese Rechte müssen sowohl Freiheitsrechte und
demokratische Rechte als auch soziale Rechte umfassen. Zur Garantie der
grenzüberschreitenden Gültigkeit dieser Rechte könnte ein gemeinsamer
Gerichtshof eine mögliche Lösung sein.
5.Jerusalem als multikulturelle Stadt, die sowohl für Israelis als auch für
Palästinenser:innen eine große Bedeutung hat und Bezugspunkt für drei
Weltreligionen hat, muss für alle in der Region lebenden Menschen zugänglich
sein. Gemeinsame demokratische Institutionen zur Verwaltung der Stadt sind
essentiell dafür, hier Konflikte zu vermeiden.
6. Die Linksjugend [`solid] distanziert sich sowohl von der rechtsextremen und
menschenrechtsverletzenden Regierung Netanjahus, als auch von der jihadistischen
Terrororganisation der Hamas. Beide agieren reaktionär und handeln daher nicht
im Sinne der Arbeiter:Innen bzw. der Zivilbevölkerung in Israel bzw. in
Palästina und verdienen daher nicht die Solidarität Linker Bewegungen und
Organisationen. Unsere Solidarität gilt der Zivilbevölkerung in beiden Gebieten,
nicht den Regierungen.
Beschluss des XVI. Bundeskongresses II. Tagung vom 23.-24. Februar 2024
Inklusion ist ein Grundprinzip des Jugendverbandes. Menschen
mit Behinderungen chronischen Erkrankungen und andere Menschen
mit Inklusionsbedarf haben das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe im Jugendverband.
Zur Verbesserung der Durchsetzung des Rechts auf gleiche Teilhabe beruft sich der XVII. Bundeskongress durch Wahl eine*n oder zwei Inklusionsbeauftragte auf eine Amtszeit von zwei Jahren. Eine etwaig innerhalb der Amtszeit erforderliche werdende Nachwahl ist möglich.
Die*der Inklusionsbeauftragte bzw. die Inklusionsbeauftragten ist/sind Ansprechpartner*in(nen) für Menschen mit Inklusionsbedarf.
Er*sie achtet im bzw. sie achten im Vorfeld von Veranstaltungen des Bundesverbandes in Absprache mit der Bundesgeschäftsstelle auf den Abbau von Barrieren und steht/stehen im Austausch mit dem Bundessprecher*innenrat und den Landesverbänden. Er*sie berichten bzw. sie berichten dem Länderrat.
Zum Ablauf der zweijährigen Amtszeit wird das Amt evaluiert. Der Verband berät je nach Ergebnis der Evaluation eine Verstetigung des Amtes durch Satzungsänderung.
Beschluss des XVI. Bundeskongresses II. Tagung vom 23.-24. Februar 2024
Nach den Enthüllungen über das Potsdamer Treffen diverser rechter Akteure, darunter
auch Mitglieder der CDU, in denen groß angelegte Pläne zur Ausbürgerung und
Deportation von Personen mit Migrationshintergrund ausgearbeitet wurden, hat es
diverse Massendemonstrationen in der ganzen BRD gegeben. Ihr Anliegen ist in Teilen
diffus. Sie wenden sich unter anderem “gegen rechts”, gegen Abschiebungen oder für
ein Verbot der AfD durch die staatlichen Behörden.
Was klar sein sollte: Die Pläne der AfD und des rechten Flügels der CDU sind in ihrem
Ausmaß erschreckend und sie sind weitergehend als die bisherigen Pläne der
Regierungsparteien und der CDU. Sie reihen sich allerdings ein in eine Tradition der
rassistischen Grenz- und Migrationspolitik, die letztens mit den GEAS-Reformen und
der Verabschiedung des “Rückführungsverbesserungsgesetzes” deutlich wurde. Wenn also
jetzt Mitglieder der regierenden Parteien gegen „Remigration“ auf die Straße gehen,
dann ist das nicht nur verlogen und heuchlerisch, sondern auch gefährlich. Es
normalisiert die gegenwärtige Praxis von Abschiebungen und legitimiert sie als Teil
des bürgerlichen Rechtsstaates. So erscheint es für Bürgerliche und Liberale, als ob
zwischen einer „normalen“ Abschiebung und einer Deportation, wie Teile der AfD sie
nun immer offener diskutieren, Welten liegen. Tatsächlich war es jedoch die
Unionsfraktion im Bundestag, die unlängst unter Heranziehung schwammiger Kriterien
eine erleichterte Ausbürgerung von Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft offen
forderte und hierfür Zuspruch erhielt [1].
Dies alles ist Resultat einer seit Jahrzehnten andauernden rassistischen Kampagne,
die die Angst vor einer “Asylflut“ und einer dementsprechenden „Überforderung“
deutscher Behörden und der Bevölkerung schürt, wie etwa zahlreiche Cover des Magazins
„Der Spiegel“ aus der Zeit seit 1992 [2] oder hetzerische Berichte der Bild-Zeitung
belegen. Diese Form der Berichterstattung zusammen mit den Forderungen der
“Begrenzung“ von Migration aus verschiedensten Parteien schafft ein gefährliches
Klima für Migrant*innen und Geflüchtete. 2023 haben die Angriffe auf Geflüchtete im
Vergleich zum Vorjahr stark zugenommen. In den ersten drei Quartalen von 2023 gab es
1515 dieser Angriffe (1371 im gesamten Jahr 2022) [3].
Dass auch ehemals für ihre Solidarität mit Geflüchteten bekannte Parteien wie die
Grünen nun eine solche Politik mittragen, verdeutlicht die Macht dieses Narrativs und
seine Übernahme durch vermeintlich progressive Akteure.
Zur Bekämpfung der rassistischen Gewalt müssen wir an die Ursache gehen. Die
Migrationspolitik Deutschlands und der EU ist geprägt von rassistischer Selektion.
Migrant*innen werden von den Staaten der EU auf diverse Weise entmenschlicht. Kern
dieser Entmenschlichung ist ihre ökonomische Verwertung.
Dass auch ehemals für ihre Solidarität mit Geflüchteten bekannte Parteien wie die
Grünen nun eine solche Politik mittragen, verdeutlicht die Macht dieses Narrativs und
seine Übernahme durch vermeintlich progressive Akteure.
Zur Bekämpfung der rassistischen Gewalt müssen wir an die Ursache gehen. Die
Migrationspolitik Deutschlands und der EU ist geprägt von rassistischer Selektion.
Migrant*innen werden von den Staaten der EU auf diverse Weise entmenschlicht. Kern
dieser Entmenschlichung ist ihre ökonomische Verwertung.
Neben der Prekarisierung findet auch eine extreme Illegalisierung statt. Mit
zunehmender Verschärfung der Gesetze leben Menschen in Angst vor Abschiebung und vor
rassistischen Polizeikontrollen, beispielsweise wenn in migrantisch geprägten
Stadtteilen zusätzliche Polizeiwachen eingerichtet werden oder verstärkte Kontrollen
stattfinden.
Auf der anderen Seite dienen Migrant*innen als permanente Drohkulisse, sie stellen
das „Fremde“ dar. Dies zeigt sich immer wieder in den Debatten um eine „Leitkultur“,
um „importierten Antisemitismus“ oder über den „Zusammenbruch“ des Asyl-Systems.
Implizit oder explizit wird deutlich, dass sie unerwünscht sind und entfernt werden
sollen.
Diese Doppelrolle dient dem Kapital insofern, dass sie Arbeiter*innen zur Verfügung
haben, die einerseits den Lohn drücken und andererseits zu schlechte Bedingungen
vorfinden, um sich als Arbeiter zu organisieren. Zu dieser Bekämpfung des
Klassenbewusstseins durch die Kapitalisten zählen auch die geschürten Ängste. Nur
durch ein starkes Klassenbewusstsein kann dieses Spiel entlarvt werden.
Als sozialistischer und antirassistischer Verband ist unser Ziel die Überwindung des
Kapitalismus und der damit einhergehenden (Über-)Ausbeutung und Diskriminierung.
In seinem Weg an die Macht greift der Faschismus dabei die vom Kapitalismus notwendigerweise ausgehende Unzufriedenheit auf, beschränkt sich dabei jedoch nicht auf eine bestimmte Form der Diskriminierung. Heutzutage dienen dem Faschismus besonders Migrant*innen und von antimuslimischen Rassismus Betroffene als Sündenböcke. In erster Linie zielt der Faschismus damit darauf ab eine Heimatfront zur totalen Durchsetzung der imperialistischen Ziele zu schaffen. Weitergehend müssen wir als Sozialist*innen und Antifaschist*innen einen tiefergehenden Diskurs über die Faschismusanalyse und die notwendigen Formen des Antifaschismus führen. Bürgerliche Faschismusanalysen lehnen wir ab, denn sie relativieren den Wirtschafts- und Außenpolitik, die sie zusammen mit den westlichen Staaten durchsetzt
ein wesentlicher Akteur bei der Entstehung von Krisen und Fluchtursachen. Im
Kapitalismus sind Kriege, Flucht und Vertreibung traurige Normalität. Migration und
Flucht sind aber darüber hinaus ein in der Geschichte kapitalistischer Staaten immer
dagewesenes Phänomen. Wir wehren uns gegen die Instrumentalisierung von Menschen, die
ein besseres Leben suchen, egal ob sie vor Krieg, Klimakatastrophen oder Armut
fliehen.
Stattdessen müssen wir die kollektive Absicherung besserer Lebensgrundlagen entgegen
der Verwertungslogik garantieren, entgegen den ökonomischen Zwängen und der
rassistischen Logik im kapitalistischen System. Bis dahin müssen wir uns für eine
Erhaltung und Ausweitung des Asylrechts einsetzen. Für Geflüchtete und Migrant*innen
müssen eine geeignete Aufnahme und der Zugang zu Bildung und Arbeit sowie die
Voraussetzungen dazu, Bleibe, Versorgung, Sprache, usw. umfassend gewährleistet
werden.
Auch die Friedenspolitik als intrinsischer Teil der Bekämpfung von Fluchtursachen
müssen wir in den Blick nehmen. Schlussendlich darf das Ziel hierbei nicht eine
nationale Abschottung sein, sondern die Überwindung nationalistischer und
chauvinistischer Narrative und die Förderung eines proletarischen Internationalismus,
der die Grenzen der Nationalstaaten überwindet. Denn unsere kollektive Befreiung
können und werden wir nur gemeinsam erkämpfen!
[1] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-11/csu-herrmann-doppelte-staatsbuergerschaft-aberkennung-straftaten
[2] https://uebermedien.de/88481/wie-der-spiegel-sich-aus-einem-foto-sein-bedrohliches-fluechtlings-cover-bastelte/
[3] https://www.tagesschau.de/inland/uebergriffe-gefluechtete-100.html