Stellungnahme zum Arbeitsbegriff

Beschluss des IV. Bundeskongresses am 13.-15. Mai 2011 in Hannover

Der vorliegende Text wird nicht als Verbandsposition beschlossen, sondern als Startpunkt für eine innerverbandliche Debatte zur Kenntnis genommen.
Auf den Verbandsveranstaltungen bis zum Bundeskongress 2012 sind geeignete Foren, Workshops, Seminare, Texte und andere hilfreiche Formate und Ressourcen zu suchen und für diese Debatte zur Verfügung zu stellen.
Die ZORA-Redaktion wird aufgefordert, in ihren kommenden Ausgaben in geeignetem Rahmen Debattenseiten zur Verfügung zu stellen. Hierbei sollen Bündnispartner_innen mit einbezogen und verschiedene Meinungen zugänglich gemacht werden.
Landesverbände und Ortsgruppen werden gebeten, diese Debatte zu führen.
Der Verlauf der Debatte wird in geeigneter Form dokumentiert und mindestens teilweise öffentlich zugänglich gemacht.

Zum Arbeitsbegriff
Der Begriff der Arbeit ist zentral in den politischen Debatten der Bundesrepublik. “Gleicher Lohn für gleiche Arbeit” fordern DGB, SPD und LINKE, “Arbeit muss sich wieder lohnen” die FDP. Arbeitslosigkeit wird immer wieder als eines der zentralen Probleme benannt und “Vollbeschäftigung” als Ziel entgegengehalten. “Arbeit soll das Land regieren” plakatierte gar die PDS im Bundestagswahlkampf 2002. Fast alle sind sich also einig: Arbeit ist toll und es kann nie genug davon geben.
Diesem großen Konsens fast aller Politiker_innen zum Trotz, ist die Bestimmung des Begriffes Arbeit alles andere als leicht. Einen Arbeitsplatz hat, wer einer bezahlten Beschäftigung nachgeht. Arbeitslos hingegen ist, wer kein solches Arbeitsverhältnis vorweisen kann. Dem entgegen stehen Begriffe wie ehrenamtliche Arbeit, Garten- oder Hausarbeit. Obwohl also der Arbeitsbegriff in unserer Gesellschaft auch als zielgerichtete und schöpferische Tätigkeit des Menschen – unabhängig von jeder Lohnzahlung – auftaucht, dominiert in gesellschaftlichen und politischen Debatten ganz klar ein Arbeitsbegriff, der sich explizit auf “Lohnarbeit” bezieht.
Was aber befähigt bestimmte Formen der Arbeit dazu, als Lohnarbeit (also “bezahlte” Arbeit) aufzutreten? Und sind alle Formen der Arbeit, die nicht bezahlt sind, für die Katz? Wer bekommt die Früchte der Arbeit?

Der Wettbewerb, das schlechtere Leben und warum wir arbeiten müssen
Also langsam: In unserer Gesellschaft ist die Arbeitskraft, also die Möglichkeit, Arbeit zu verausgaben und auszuführen, eine Ware. Weil uns die verschiedenen Mittel zur Bedürfnisbefriedigung (Nahrungsmittel, Kleidung, Wasser; aber auch MP3-Player, Cocktails und Hängematten) ebenfalls als Waren begegnen – das heißt, dass der Zugriff darauf nur durch Tausch möglich ist – benötigen die Menschen Geld, um an diese zu gelangen. Der übergroße Teil der Menschen erhält dieses aus Lohnzahlungen. Die Höhe des Lohns ist nichts weiter als der Preis, für den die Menschen ihre Arbeitskraft am entsprechenden Markt (“Arbeitsmarkt”) veräußern. De facto gibt es also einen Arbeitszwang. Der ist allerdings nicht durch eine personale Herrschaft bestimmt, wie beispielsweise in der Sklaverei oder im Feudalismus. Niemand steht mit der Peitsche da und treibt die Leute in den Steinbruch. Vielmehr ist der Arbeitszwang ein vermittelter, apersonaler Zwang. Denn wer nicht arbeitet (egal, ob willentlich oder nicht), der hat nicht nur kaum Geld für die Sachen, die der Mensch so braucht und möchte; der wird auch in unserer Gesellschaft schnell stigmatisiert und ausgegrenzt. Doch auch die, die “Arbeit haben” sind oft nicht zufrieden. Der ständige Wettbewerb mit den anderen Arbeitskraftverkäufer_innen ist ein Wettbewerb nach unten. Es geht nicht um möglichst gute Arbeitsbedingungen, möglichst hohe Löhne und viel Spaß an der Arbeit. Den Zuschlag für einen Arbeitsplatz erhält, wer bereit ist, viele unbezahlte Überstunden zu leisten, einen geringeren Lohn akzeptiert als die Mitbewerber_innen und bei Problemen die Klappe hält. Dieser Wettbewerb gewinnt vor allem auch dadurch an Fahrt, dass es ein ständiges Überangebot an der Ware Arbeitskraft gibt. Viele Arbeitslose sind schließlich bereit, für einen noch geringeren Lohn zu arbeiten, um überhaupt einen Arbeitsplatz zu erheischen.

Der Hass auf Arbeitslose und der Wunsch nach negativer Herstellung von “Gerechtigkeit”
Die, die jedoch einen Job haben, richten ihre Kritik nicht gegen die Verhältnisse, in denen die Arbeit so organisiert ist. Ihre eigene schlechte Situation empfinden viele als ungerecht gegenüber denen, die keine Arbeit haben. Arbeitslose seien faul, leisten keinen Beitrag zur Gesellschaft und machen sich auf Kosten derer, die arbeiten, ein schönes Leben. Der Versuch, “Gerechtigkeit” herzustellen, führt dann seitens der Arbeitenden eben nicht zu einer positiven Aufhebung der gefühlten, selbst erlebten Ungerechtigkeit und misslichen Lage, sondern “den Anderen” (den “schmarotzenden Arbeitslosen”) soll es wenigstens genauso schlecht gehen wie einem selbst.
Der gesellschaftliche Hass auf Arbeitslose, die ihren Beitrag zum Gemeinschaftswohlstand angeblich nicht leisten, ist nur denkbar in einer Gesellschaft, in der Arbeit zentrales kollektives und individuelles Identitätsmerkmal ist. Alles kreist um die Arbeit. Wenn ein Mensch einen anderen kennenlernt, ist die Frage nach dem Beruf fast genauso selbstverständlich wie die Frage nach Alter oder Name. Junge Freelancer und Selbstständige prahlen beispielsweise mit ihren Projekten und basteln an ihrem Vorzeigeportfolio. Von nichts kommt nichts und wer nichts tut, ist nichts.

Widerspruch in der Wertschätzung der Arbeit
Aber auch der Besitz eines Arbeitsplatzes garantiert keine Wertschätzung durch andere. Verschiedenen Jobs schlägt Anerkennung in unterschiedlichem Maß entgegen. Die Arbeit im Marketingbetrieb beispielsweise ist angesehener als der Job bei der Stadtreinigung. Diese Unterscheidung mag zunächst – aufgrund des Einkommens und notwendigen Qualifizierungsgrades – plausibel erscheinen, verträgt sich jedoch nicht mit oben genanntem Punkt. Denn wo durch den Vorwurf, wer nicht arbeitet sei ein Schmarotzer, Arbeit als Lohnarbeit gleichzeitig als wichtiger Beitrag zum gesamtgesellschaftlichen Wohlstand gilt, erscheint die Lohnarbeit auch immer als gesellschaftlich wertvolle Arbeit. Das allerdings steht in einem tatsächlichen Gegensatz zur Wertschätzung verschiedener Formen der Lohnarbeit. Denn zweifelsohne hätten wir ein größeres Problem mit riesigen Müllbergen auf den Straßen als mit dem plötzlichen Verschwinden der Werbung; dennoch bekommen eben jene, die in der Werbebranche arbeiten, mehr Anerkennung als diejenigen, die Toiletten putzen oder Pfandflaschen einsammeln.

Das Verschwinden des Charakters der konkreten Arbeit oder: Warum Brötchen gebacken werden
Dass die Wertschätzung einzelner Arbeiten wider Erwarten nicht von deren tatsächlicher Relevanz, also von der unterschiedlichen Nützlichkeit der von ihnen erzeugten Gebrauchswerte abhängt, liegt daran, welchen Zweck Arbeit und Produktion im Kapitalismus haben. Wenn in einer Bäckerei Brötchen gebacken werden, ist es naheliegend, dass der Gebrauchswert des Brötchens Ziel seiner Herstellung ist. Genauer: Menschen haben Hunger, also ist es naheliegend, Nahrungsmittel herzustellen – logisch! Nur: So einfach ist es nicht. Schließlich werden die Brötchen als Gebrauchswerte (Sattmacher) auch nicht nach Bedürfnissen ausgegeben. Wer Hunger hat, bekommt deshalb noch lange kein Brötchen. Nur wer Hunger hat, Brötchen vorfindet und diese auch zu zahlen bereit ist – also zu tauschen gegen Geld – wird Eigentümer_in des Brötchens, kann es verspeisen und so den kleinen oder großen Hunger besiegen. Kein Tausch, kein Brötchen – so läuft das. Und genau dafür werden die Brötchen auch hergestellt: Um sie zu tauschen, um Geld dafür zu erhalten. Dass die Ware dabei auf der anderen Seite des Tausches eventuell auch ein Bedürfnis befriedigt, ist ein netter Nebeneffekt, aber eben nicht Sinn und Zweck der Produktion.

Wir halten also fest: Zwar werden reihenweise Gebrauchswerte in unserer Gesellschaft hergestellt, aber nur, weil sie neben Gebrauchswert auch Tauschwert haben. Kein Unternehmen stellt die schönsten und nützlichsten Dinge (Gebrauchswerte) her, ohne dass diese einen am Markt umsetzbaren Tauschwert haben. Die Zielrichtung der Produktion ist nicht das Produkt selbst, nicht das Brötchen, sondern das tauschbare Ding. Ob das jetzt ein Brötchen, ein Gewehr oder ein Laptop ist, interessiert nur am Rande. Aber was passiert dann mit der Arbeit, die diese Dinge herstellt? Der konkrete Charakter der Arbeit, also die spezifische Tätigkeit für die Herstellung des Brötchens (Teig rühren, backen) verschwindet hinter der abstrakten Verausgabung von Arbeit. Arbeit kann aussehen wie immer sie mag (Denkarbeit oder Handarbeit, kompliziert oder einfach) und benutzen was sie will (Hammer oder Laptop, Dynamit oder Massageöl). Da die Bestimmung des jeweilig hergestellten Arbeitsproduktes der Tausch ist und der eigentliche Gebrauchswert in den Hintergrund rückt, ist eben auch die spezifische Art der Arbeit, die abhängig ist vom Gebrauchswert der Ware, nicht mehr unmittelbar zu erkennen. Die Unterschiede in der Herstellung eines Brötchens verglichen mit der Herstellung von Sonnencreme verschwinden. Was zählt, ist die Herstellung von Tauschwert, also geronnene Arbeitskraft, also die Arbeit selbst. Kurzum: Die Arbeit ist Selbstzweck. Weil die Arbeit von ihrer konkreten Form entfremdet ist, findet auch in ihrer gesellschaftlichen Betrachtung kaum eine Beachtung ihrer konkreten Form oder der von ihr hergestellten Gebrauchswerte statt. Da die Menschen zudem arbeiten, um feste Tauschwerte in Form von Geld zu erhalten, zählt eine Arbeit mehr, die mehr Geld einbringt – unabhängig vom Nutzen der Gebrauchswerte, die sie produziert.

Gleichsam darf man aber nicht den Fehler begehen, denjenigen Arbeiten ihre Legitimation abzuerkennen, deren erzeugter Gebrauchswert gering ist. Die Menschen, die diese Arbeiten ausführen, sind dem allgemeinen Zwang zur Arbeit unterworfen wie andere auch. Die Herstellung von Panzern und Werbeclips ist also nicht Schuld der sie Produzierenden. Sie müssen schließlich bei Nichtannahme der Arbeit Einschnitte in ihr persönliches Wohlergehen befürchten. Schuld sind die Verhältnisse, in denen dieser Zwang besteht und in denen die Herstellung von Gebrauchswerten zur Bedürfnisbefriedigung eben nur nebensächlich ist.

Den Kritiker_innen der Arbeit wird immer wieder mitgeteilt, die Arbeit könne gar nicht reduziert werden, da Bedürfnisse unendlich seien. Nein, vielmehr tendiere sie immer dazu, sich selbst zu vermehren. Oder sie könne zumindest nicht absinken, weil da, wo ein Bedürfnis befriedigt ist, an seine Stelle ein neues tritt, das ebenfalls befriedigt werden will. Diese Aussage verkennt indes einen ganz wesentlichen Fakt: Entspannung, Geselligkeit, Schlaf und der reine Verbrauch von Gebrauchsgütern sind ebenfalls Bedürfnisse. Bedürfnisse jedoch, die mit dem Schaffen neuer Gebrauchswerte nicht immer kompatibel sind.

Produktivität und ein schönes Leben
Die Zunahme der Produktivität in allen Bereichen der Lohnarbeit ist bekannt und wird auch wirtschaftlich begrüßt. Der Golf VI wird um 15% effizienter hergestellt als der Golf V, d.h. es müssen 15% mehr Golf VI verkauft werden, damit alle Menschen ihren Arbeitsplatz behalten können. Die aktuelle Wirtschaftstheorie versucht das Problem wie folgt zu erklären: In dem Maß, in dem Menschen durch Produktivitätssteigerungen (Prozessinnovation) nicht mehr benötigt werden, werden neue Güter erfunden (Produktinnovation), also auch neue Bedürfnisse geweckt und somit wieder neue Arbeitsplätze geschaffen. Beide Prozesse wirken jedoch gegeneinander. Da der Mensch rein physikalisch nicht unendlich viel konsumieren kann – und sei es, weil der Tag nur 24 Stunden hat – gewinnt langläufig die Prozessinnovation überhand, was sich dann in Überproduktionskrisen, darauffolgend empirisch in höheren Arbeitslosenzahlen niederschlägt.
Könnte der Konflikt aufgelöst werden, indem z.B. der gewerkschaftlichen Forderung Folge geleistet wird, die Produktivität nicht weiter zu steigern, z.B. in dem kritisiert wird, dass Betriebe neue effizientere Maschinen kaufen, die menschliche Arbeitskraft ersetzen?
Dies steht im Widerspruch zu der grundsätzlich positiven Wirkung von Produktivitätssteigerung, die es den Menschen ermöglicht, arbeitsintensive Tätigkeiten an Maschinen zu delegieren und die dafür frei werdenden Ressourcen beispielsweise für Müßiggang und Kultur nutzen zu können.

Praktische Verbesserungen
Die im Text genannten Probleme lassen sich zweifelsfrei nicht einfach realpolitisch in unserer Gesellschaft lösen. Gleichwohl ist eine Suche nach realpolitischen Instrumenten zur Minderung des Leides durch Arbeit eine sinnvolle Sache. Statt immer weniger Menschen immer mehr Arbeiten und damit auch immer mehr Menschen immer weniger Einkommen zu Teil kommen zu lassen, ist eine Arbeitszeitverkürzung und damit fairere Verteilung der Arbeit ein denkbarer Lösungsansatz. Ein wesentliches Problem bleibt dabei jedoch unangetastet: nützliche, für die Gesellschaft notwendige Arbeit – wie beispielsweise im Ehrenamt – ist oft unbezahlt. Die Verwandlung des Ehrenamts in bezahlte Arbeit, wie auch von der Partei DIE LINKE angestrebt, kann indes nicht wirklich eine Lösung sein. Zum einen blieben andere Formen nützlicher Arbeit ausgegrenzt, zum anderen entstünde ein neues Problem: Das Ehrenamt wie auch andere Formen freiwilliger und unbezahlter Arbeit sind nicht zuletzt deshalb attraktiv, weil sie eben weitgehend zwanglose Formen der Arbeit sind. Eine Verwandlung von Ehrenamt in klassische Formen der Lohnarbeit ist daher keine gute Option.

What about Grundeinkommen
Eine bereits seit längerem und zunehmend intensiv geführte Debatte ist die um das Grundeinkommen. Die Agierenden kommen dabei aus verschiedenen politischen Lagern. Kein Wunder also, dass die Modelle, die Gründe, die Höhe und Argumente durch und durch verschieden sind. Eine sympathische Idee ist die des bedingungslosen Grundeinkommens von diversen linken Zusammenschlüssen. Es geht von der Idee aus, dass alle Menschen eine grundlegende Lebensberechtigung haben. Diese Lebensberechtigung ist nicht nur ein Recht zum Über- sondern zum richtigen Leben, also mit voller Teilhabe an der Gesellschaft. Darüber hinaus würde das bedingungslose Grundeinkommen nicht nur die Situation der prekarisierten (Lohn-)Arbeitslosen verbessern, sondern auch das Empowerment von lohnabhängig Beschäftigten – die plötzlich nicht mehr im Angesicht des drohenden Arbeitsplatzverlustes und damit einhergehender Verarmung jede Zumutung ihrer Arbeitgeber_innen akzeptieren müssen.

Alles bleibt wie’s ist – oder nicht?
Alle diese realpolitischen Veränderungsvorschläge sind jedoch chancenlos, wenn die Grundeinstellung zur Arbeit sich nicht wandelt. Solange es keine Abwendung vom Arbeitsfetischismus gibt, muss die Befreiung der Arbeit und damit die Freiheit des Menschen von selbstgewählter Beherrschung notwendigerweise scheitern. Wir suchen daher die Debatte um den Umgang mit der Arbeit und ihrer gesellschaftlichen Funktion. Wir laden alle ein, mit uns zu diskutieren, wie wir Menschen uns in Zukunft zur Arbeit verhalten wollen.

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