Mehr Demokratie wagen heißt auch: Wahlrecht reformieren und ausbauen!
Beschluss des VII. Bundeskongresses am 28.-30. März 2014 in Frankfurt am Main
Der Bundesparteitag möge beschließen:
DIE LINKE setzt sich seit ihrer Gründung im Bund und in den Ländern für eine Stärkung der direkten Demokratie ein, die in der Bundesrepublik nach wie vor im Schatten der Parlamente steht. Über 100 Jahre nach der Geburt von Willy Brandt setzt sich DIE LINKE weiterhin dafür ein, mehr Demokratie zu wagen. Wir wollen daher nicht nur den Ausbau direktdemokratischer Beteiligungs- und Entscheidungsformen, sondern als zweites Standbein auch das Wahlrecht modernisieren.
Wir lassen uns dabei leiten von dem Grundsatz, dass alle, die von Entscheidungen betroffen sind, in diese einbezogen werden sollten. Die Stimme der Einzelnen darf keiner wie auch immer gearteten Eignungs- oder Gesinnungsprüfung unterliegen, muss gleichwertig sein und der Ausschluss vom Wahlrecht muss massiv eingeschränkt werden. Der Souverän ist die Bevölkerung. Sie allein entscheidet, wer genügend Stimmen erhält, um im Parlament vertreten zu sein.
Bei der letzten Bundestagswahl war jedoch beispielsweise ein Viertel der in der Bundesrepublik lebenden Menschen von der Teilnahme ausgeschlossen. Das entspricht etwa 20 Millionen Menschen, die ihre Stimme nicht erheben und abgeben durften. Noch nie in der parlamentarischen Geschichte der Bundesrepublik waren so viele Wählerinnen und Wähler mit ihrer Parteipräferenz nicht durch Abgeordnete im Parlament vertreten. Nicht zuletzt wegen der 5% Hürde haben bei der Bundestagswahl 2013 knapp 16% der Wählenden einer Partei ihre Stimme gegeben, die sich nun im Parlament nicht wiederfindet. Damit sind in der aktuellen Legislatur 7 Millionen derer, die zur Wahl gegangen sind, mit ihrer Stimme nicht im Parlament vertreten. Trotz leicht gestiegener Wahlbeteiligung sind weiterhin über 17,5 Millionen Wahlberechtigte erst überhaupt nicht zur Wahl gegangen.
Nicht nur vor diesem Hintergrund ist es an der Zeit, das Wahlrecht der Bundesrepublik deutlichen Veränderungen zu unterziehen, mit dem Ziel, dass Wahlen die Präferenz der Wählenden besser im Parlament abbilden, mehr Menschen einbezogen werden und das bisherige Zwei-Stimmen-Wahlrecht der gesellschaftlichen und parlamentarischen Realität angepasst wird.
Deshalb setzt sich DIE LINKE ein für:
- die Ausweitung des Wahlrechts auch für in Deutschland lebende und hier ihren Hauptwohnsitz habende Menschen, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft
Denn: Auch hier lebende Menschen ohne Staatsbürgerschaft sind fast gleichermaßen von den Entscheidungen im Parlament betroffen – in Teilen sogar noch mehr, als Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft, die in einem anderen Land leben. Nach geltendem Wahlrecht dürfen letztere wählen, erstgenannte jedoch nicht. Wir meinen: Dort wo Menschen ihren Lebensmittelpunkt haben, sollen sie sich auch durch die Beteiligung an Wahlen an der Gestaltung des Gemeinwesens beteiligen können.
- die Abschaffung der Altersgrenze bei Wahlen
Die Geschichte der Veränderung des Wahlrechts in parlamentarischen Demokratien ist eine Geschichte der Ausweitung des Kreises der Wahlberechtigten. Mittlerweile ist es unstrittig, dass auch Frauen, ärmere Bevölkerungsschichten und Menschen mit Migrationshintergrund (sofern sie Staatsbürger/innen sind) wählen dürfen. Es findet im Regelfall bei der Frage der Wahlberechtigung aus gutem Grunde keine Eignungsprüfung statt. Die unter 18-Jährigen in unserer Gesellschaft sind jedoch nach wie vor vom Wahlrecht ausgeschlossen. Ihnen wird kollektiv der Stempel „ungeeignet für eine Wahlteilnahme“ auf die Stirn gesetzt. Wir möchten, dass auch diese Menschen das Recht erhalten, zu wählen. Wann sie davon Gebrauch machen, ist wie bei allen anderen Wahlberechtigten üblich, deren Entscheidung. Ein sogenanntes Familienwahlrecht, das Eltern von nicht-wahlberechtigten Kindern deren Stimme überträgt, lehnen wir hingegen ab. Die Wahl ist nachwievor ein höchst-persönliches Recht. Auch sonst ist der Ansatz „Familienwahlrecht“ praktisch kaum umsetzbar.
- die Abschaffung der Sperrklausel
Alle Staatsgewalt geht von der Bevölkerung aus. Sperrklauseln sind undemokratisch, weil sie dazu beitragen, den Willen der Wählenden nicht im Parlament abzubilden. Die politische Auseinandersetzung mit auch von uns für falsch gehaltenen Positionen muss geführt werden, eine Sperrklausel ist kein Ersatz für diese Auseinandersetzung und läuft Gefahr den politischen Gegebenheiten beliebig angepasst zu werden. Auch das Argument der Zersplitterung des Parlaments kann nicht überzeugen. Die Parlamente müssen verantwortungsbewusst mit den jeweiligen Wahlergebnissen umgehen. Die Parlamentspraxis steht nicht über dem Willen der Wählenden. Das Wahlrecht muss nicht den Gegebenheiten im Parlament angepasst werden, sondern die Parlamentspraxis muss sich am Willen der Wählenden orientieren.
- die Ersetzung des bisher verwendeten „personalisierten Verhältniswahlrechts“ mit Erst- und Zweitstimme durch ein Einstimmenverhältniswahlrecht mit Einfluss der Wähler/innen auf die Reihung der Listen.
Das Zweistimmenwahlrecht mit Erst- und Zweitstimme führt zu erheblichen verfassungsrechtlichen Problemen mit den Wahlrechtsgrundsätzen. Wir sehen die Notwendigkeit der Verankerung der Parlamentarier/innen in der Bevölkerung, wie sie derzeit durch die Wahlkreisgewinner/innen zum Ausdruck kommen soll. Deshalb wollen wir Wählenden nach wie vor die Möglichkeit geben, Wahlbewerber/innen auf den Parteilisten, ebenso wie Einzelbewerber/innen, präferieren zu können. Wir wollen eine Vereinfachung des Wahlrechts und die Beseitigung verfassungsrechtlicher Probleme durch ein Einstimmenverhältniswahlrecht mit Einfluss der Wählenden auf die Reihung der Listen.
- Streichung des Parteienmonopols bei der Zulassung von Listen zur Bundestagswahl und rein formale Zulassungsprüfung
Derzeit dürfen zur Bundestagswahl nur Parteien Listen einreichen. Die Parteieigenschaft wird vom Bundeswahlausschuss auch anhand unbestimmter Rechtsbegriffe wie „Ernsthaftigkeit“ geprüft. Wir wollen, dass nach Beibringung der notwendigen Unterschriften auch Nicht-Parteien zur Bundestagswahl antreten dürfen. Für die Zulassung soll neben den notwendigen Unterschriften ausreichen, dass eine solche Organisation einen Vorstand, eine Satzung und ein Wahlprogramm hat.
- Streichung des Ausschluss vom Wahlrecht auf Grund Richterspruchs, wegen richterlicher Anordnung eine Betreuung in allen Angelegenheiten (Vollbetreuung) und wegen Aufenthalts in einem psychatrischen Krankenhaus (§ 13 BWahlG)
Das Wahlrecht ist nicht etwas, was als Auszeichnung verliehen wird, sondern es besteht weil jemand Bestandteil der Gesellschaft ist. Das Wahlrecht zu entziehen bedeutet, Menschen von der demokratischen Teilhabe auszuschließen. Weil wir dem Grundsatz folgen, dass der Souverän die Bevölkerung ist, wollen wir die benannten Ausschlussgründe vom Wahlrecht streichen.
Mit diesen Reformvorhaben wollen wir das Wahlrecht vereinfachen, das Prinzip der Erfolgswertgleichheit der Stimmen auch für unsere kleinen Mitbewerber/innen durchsetzen, mehr Menschen die ihnen zustehenden Beteiligungsrechte verleihen, den Einfluss der Wähler/innen auf die tatsächliche Zusammensetzung des Parlaments erhöhen und damit nicht zuletzt die Attraktivität einer Wahlteilnahme deutlich erhöhen.