Leitantrag

an den Bundeskongress 2022

Eine Zeit der Krisen

„Es gibt Jahrzehnte, in denen nichts passiert und es gibt Wochen, in denen Jahrzehnte passieren“ – dieses Zitat wird Lenin fälschlicherweise zugeschrieben, aber trotz unklaren wahren Ursprungs erinnerten sich viele Linke im Jahr 2022 an diesen Satz. Die Corona-Pandemie ist noch nicht vorbei und wird mittlerweile durch den Ausbruch der Affenpocken ergänzt. Die USA driften mit der Verfolgung von Schwangerschaftsabbrüchen, Drag und jugendlichen trans Menschen in vielen Bundesstaaten in eine immer dystopischere Richtung ab. In Ländern wie Italien und Frankreich setzte sich der rasante Aufstieg faschistoider Kräfte fort.

Besonders prägend war aber die Krise, die durch den brutalen Angriffskrieg des russischen Regimes auf die Ukraine ausgelöst wurde: Einen Krieg dieses Ausmaßes gab es so nah an den Zentren des kapitalistischen Weltsystems lange nicht. Und die Auswirkungen reichen weit über die Ukraine hinaus: Global hat der Krieg große Auswirkungen auf Lieferketten. Durch die Abhängigkeit des deutschen Kapitalismus von billigen fossilen Brennstoffen aus Russland trägt der Krieg mit den damit einhergehenden Sanktionen zu einer sozialen Krise bei, wie wir sie seit Jahrzehnten nicht hatten – befeuert durch die großen Energiekonzerne, die die Krise noch für Extraprofite ausnutzen.

Mit tatkräftiger Unterstützung der Bundesregierung werden nicht die Superreichen und die großen Konzerne für die Kosten der Krise zur Last gezogen, sondern über die Preissteigerungen die einfache Bevölkerung.

Dagegen leisten wir Widerstand:
Wir frieren nicht für die Profite von Shell, RWE und BP. Die Verelendungspolitik der Bundesregierung ist kein Naturgesetz, sondern politisch gewollt und Ausdruck dessen, dass der Staat des Kapitalismus eben kein neutraler gemeinwohlorientierter Akteur ist, sondern das Interesse des Kapitals an immer mehr Profit vertritt.

Und hier hören die Krisen nicht auf:
Die Klimakatastrophe zeigte mit den Überflutungen in Pakistan und den Hitzewellen auch in Europa, wie real die Auswirkungen der für viele nur abstrakt erscheinenden Erderwärmung sind. Und dabei ist diese Krise nicht von den bisher geschilderten Krisen zu trennen. Der fossile Kapitalismus, der seit Jahren Diktaturen wie Russland finanzielle Handlungsfähigkeit und enormen Einfluss brachte, ist die Haupttreibkraft hinter der Klimaerwärmung. Um die selbst verschuldete Abhängigkeit von russischer Energie abzubauen, setzt die Bundesregierung auf die Stärkung einer anderen fossilen Kapitalfraktion, die die Klimakrise weiter vorantreibt: Der Kohleindustrie, insbesondere der in Deutschland starken Braunkohlekonzern. Und dieser Raubbau an der Natur bleibt nicht konsequenzenlos: Viele Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen konnten glaubhaft nachweisen, wie der Raubbau an der Natur und die Klimakatastrophe Pandemien fördern. Die Zerstörung der Regenwälder, die Änderung von Temperaturen und Extremwetterereignisse treiben bisher isolierte Tierarten aus den Urwäldern in die Städte, wo sie Krankheiten auf Menschen übertragen können. Die Massentierhaltung mit ihrer extremen Konzentration sowohl vieler Tiere als auch vieler Menschen auf winzigem Gebiet unter schlechten hygienischen Bedingungen ist nicht weniger als eine Pandemie-Produktions-Industrie.

Die diversen Krisen, unter denen wir gerade leiden, hängen also einerseits kausal miteinander zusammen, da sie alle ihren Ursprung im unterdrückerischen, ausbeuterischen Kapitalismus haben, gleichzeitig intensivieren sie sich aber gegenseitig. Diese Verflochtenheit und die immer schnellere Abfolge von Katastrophen erinnern uns an das, was der französische Marxist Daniel Bensaïd als gebrochene Zeit bezeichnet hat: Die Welt entwickelt sich nicht linear gleichmäßig weiter und es ist nicht entschieden, ob sozialer Fortschritt oder Rückschritt das Ergebnis der vergehenden Zeit ist. Krisen treten selten allein auf und manchmal kann sich innerhalb kurzer Zeit alles ändern. Dieses Verständnis von Zeit erlaubt es überhaupt erst, an die Möglichkeit von Revolutionen zu denken, denn an diesen Brüchen in der Zeit kann sozialistische Organisierung ansetzen.

Was tun?

Die gebrochene Zeit der Politik mit ihren plötzlich auftauchenden Krisen kennt auch plötzlich auftauchende Massenbewegungen: Die Klimabewegung und die Black Lives Matter – Proteste waren in der jüngsten Vergangenheit Beispiele dafür, wie sich innerhalb kurzer Zeit massenhaft Menschen zusammenfinden können, um ihrer Wut über den Status Quo Ausdruck zu verleihen. Ob die Sozialproteste auch so ein Ausmaß annehmen, wird sich zeigen, ist aber nicht unwahrscheinlich.

Diese spontanen Erhebungen haben große Schlagkraft und können viele Menschen politisieren. Sie haben aber die Schwäche, dass ihnen oft die Durchsetzungsperspektive fehlt. Wegen der geringen Kontinuität müssen Bewegungen oft wieder bei Null anfangen und es wiederholen sich immer wieder Fehler vorangegangener Bewegungen.

Hier kommt die Rolle von Organisationen ins Spiel:
Strukturen, die auf langfristiger Mitgliedschaft basieren, sind in der Lage, über die Schwankungen spontaner Mobilisierungen hinaus am langfristigen Wandel der Machtverhältnisse zu arbeiten. Wenn sie es schaffen, nicht als kleine Sekte nur ihr eigenes Süppchen zu kochen, sondern aktiver Teil der Massenkämpfe zu sein – nicht missionierend, sondern ehrlich und offen -, können sie in diesen Bewegungen Erfahrungen sammeln. Diese können sie gemeinsam auf Grundlage linker Gesellschaftsanalyse auswerten, um so zu Erkenntnissen zu kommen, die in den nächsten Bewegungen einen großen Beitrag zur besseren strategischen Ausrichtung leisten können. Die Organisation dient also als revolutionärer Wissensapparat und kann so linke Kämpfe erfolgreicher machen.

Deshalb ist wichtig, dass wir uns aktiv in die Sozialproteste einmischen, anstatt sie bloß von der Seite anzufeuern:
Millionen Menschen sind wütend wegen der schrecklichen sozialen Lage. Es ist unsere Aufgabe als sozialistischer Verband, diese Wut von links aufzugreifen, zu politisieren und für den politischen Kampf gegen die Ampelkoalition zu organisieren. Gerade als Antifaschist:innen ist uns klar, dass diese Unzufriedenheit von Faschist:innen zur Stärkung ihrer politischen Macht genutzt wird und dass Untätigkeit der Linken das weiter vereinfacht. Das beste Mittel gegen eine erstarkende Rechte ist eine starke Linke. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir mit einem klaren linken und solidarischen Programm in die Proteste intervenieren. Vor Ort sind wir teilweise schon an der Organisation von Protesten beteiligt. Darauf wollen wir aufbauen und solche Bestrebungen ausbauen. Als Jugendverband wollen wir insbesondere junge Menschen für die Proteste gewinnen. Da junge Menschen meistens kaum Finanzpolster haben, auf die sie zurückgreifen können, leiden sie besonders unter der Krise.

Unsere Aufgabe ist es dabei, durch führende Beteiligung an den Massenkämpfen und durch politische Bildung, die an den Alltagserfahrungen und dem Vorwissen der Menschen anknüpft, junge Menschen die Erfahrungen und das Wissen sammeln zu lassen, um diese Kämpfe anzuführen. Als überregionaler Verband wollen wir dabei auch einen Beitrag dazu leisten, ein regionsübergreifendes Narrativ und eine Strategie für die Proteste mitzuentwickeln.

Wo stehen wir?

Um aber darüber nachzudenken, wie wir diese Rolle wirklich erfüllen können – in diesem, aber auch in anderen Kämpfen –, müssen wir eine realistische Einschätzung des aktuellen Standes der Verbandsentwicklung haben.

Und da müssen wir leider selbstkritisch sein:
Bei uns läuft gerade nicht alles rund. Die uns nahestehende Partei DIE LINKE ist in einer existentiellen Krise und auch wir haben – vor allem durch die Coronapandemie, in der wir viele langjährige Aktive verloren haben und in der gleichzeitig vielen neueren Mitgliedern mangels bundesweiter Präsenzveranstaltungen die Arbeit oberhalb ihrer Basisgruppe nicht attraktiv erschien – derzeit einen großen Mangel an erfahrenen Mitgliedern, die über ihre Basisgruppe hinaus Verantwortung übernehmen.

Dieser Mangel an aktiven Mitgliedern schafft auf allen Ebenen Probleme – und wenn der Großteil der Energie auf den puren Erhalt von Strukturen verwendet werden muss, bleibt wenig Kraft für die strategische Weiterentwicklung der Organisation

In den letzten Jahren ist es uns nicht ausreichend gelungen, unsere Theorie und Praxis in realen Kämpfen zu verankern – auch, weil uns das Bindeglied von Theorie und Praxis, nämlich die Strategie, oft gefehlt hat.

Wir erreichen oft nur die Menschen, die eh schon von selbst links werden. Politische Arbeit, die an den Strukturen ansetzt, die das Leben der Menschen prägen, also betriebliche Arbeit, Arbeit in Berufsfeldern, in Schulen oder in Stadtteilen, nahm einen zu geringen Stellenwert in unserer bisherigen Arbeit ein. Statt, wie es eigentlich immer unser Ansatz war, alle Lebensbereiche zu politisieren, war Linkssein oft eher eine von der Lebensrealität getrennte Freizeitaktivität. Das wollen wir ändern.

Zu diesen Problemen kommt auch unsere finanzielle Lage:
Leider haben wir gerade große Probleme mit der Beitragsehrlichkeit und das ist auch ein politisches Problem: Als Jugendverband haben wir den Anspruch, kritisch aufzutreten, rebellisch gegen die bestehende Ordnung zu sein und auch der uns nahestehenden Partei DIE LINKE mal auf die Füße zu treten, wenn es nötig ist. Diese politische Unabhängigkeit muss aber auch materiell unterfüttert sein: Es ist für uns als sozialistischen Jugendverband keine gute Situation, stark von Geldern des Staats und der Partei DIE LINKE abhängig zu sein. Wenn jedes Mitglied ungefähr den Betrag zahlen würde, der in der Beitragstabelle vorgesehen wäre, wären wir als Verband in einer ganz anderen Lage. Hier müssen wir deshalb die Beitragsehrlichkeit stärken.

Wie kommen wir weiter?

Von dieser Selbstkritik sollten wir uns aber nicht entmutigen lassen:
Trotz aller Probleme sind wir immer noch eine der größten linken Strukturen in Deutschland; trotz aller Probleme ermöglichen wir jedes Jahr einer dreistelligen Zahlen von jungen Menschen einen Einstieg in linke Politik; trotz aller Probleme sehen wir, dass sich auch jetzt noch hunderte Menschen im Verband am laufenden Band unbezahlt für eine andere Welt und einen Systemwechsel hin zum Sozialismus einsetzen.

Hier wollen wir ansetzen:
Wir wollen den Menschen, die sich jetzt schon engagieren, ermöglichen, sich schnell auf verschiedenen Ebenen einzubringen und auch das theoretische und strategische Fundament zu erwerben, um auch den alteingesessenen Häsinnen:Hasen selbstbewusst zu widersprechen, wenn sie Unsinn vorschlagen. Dafür wollen wir den dieses Jahr schon begonnenen Ausbau unserer Angebote in der politischen Bildung fortsetzen und dabei weiterhin ein differenziertes Veranstaltungsangebot machen, das sowohl für Neumitglieder als auch für erfahrenere und theoretisch versiertere Mitglieder Möglichkeiten bietet, etwas Neues zu lernen und sich auszutauschen und zu vernetzen. Im Kontext dessen versuchen wir auch, das Sommercamp als regelmäßige Großveranstaltung wiederzubeleben, wenn hier genügend Interesse im Verband herrscht. Weiterhin wollen wir aufgrund des Männerüberhangs in unserer Mitgliedschaft auch Angebote schaffen, die spezifisch Frauen und nicht-binäre Menschen fördern und ihnen ermöglicht, sich mit Theorie auseinanderzusetzen, ohne dabei nervige Theoriemacker ertragen zu müssen. Wichtig ist uns in unserer gesamten Bildungsarbeit, die theoretischen Erkenntnisse mit strategischen Überlegungen und Diskussion über praktische Umsetzbarkeit zu verknüpfen, gleichzeitig aber auch unsere praktischen Aktivitäten strategisch einzuordnen anstatt einfach irgendwas zu machen. Wie Rosa Luxemburg sagt, findet Lernen im Kampf statt.

Wir wollen den im letzten Leitantrag bereits skizzierten Weg hin zu Machtaufbau von unten und die Orientierung auf Selbstorganisation und Interessenspolitik für und durch die Unterdrückten fortsetzen. Eine Schlüsselrolle bei diesem Vorhaben soll unsere Ausbildungskampagne spielen, mit der wir versuchen, unsere betriebliche Verankerung auszubauen. Neben dieser Arbeit wird 2023 auch die Vorbereitung der Europawahl 2024 schon eine Rolle spielen. Mit einer starken Jugendwahlkampagne wollen wir zur Europawahl auch uns selbst einen Strukturtest unterziehen und versuchen, als gesamter Verband auf allen Ebenen zu zeigen, was wir draufhaben.

Im Jahr 2023 liegt viel vor uns – die Notwendigkeit einer starken Linken wird immer deutlicher. Lasst uns das gemeinsam angehen!

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